08 Juni Carlo Cazals – der machtlose Individualist

Dagmar Lott-Reschke (M.A.), Kunsthistorikerin, Hamburg:
„Sein Thema ist der Mensch, seine künstlerische Muttersprache ist die Figur, der Gegenstand, durch den und in dem der Mensch lebt, leidet, sich freut, fühlt und denkt. Ausgangspunkt seiner Werke ist das persönlich erfahrene Leid, ob existentielle Not oder Zurückweisung und Misserfolg. Cazals Bildnerei ist Kompensat eines Rückzugs aus einer ihn enttäuschenden und einengenden Gesellschaft.
Besonders die Zeichnung dient durch ihre Unmittelbarkeit dem Ausdruck seiner Erfahrungen und Emotionen. Am Anfang tragen die Arbeiten signifikant seinen Geburtsnamen „Udo Klein“, erst später werden sie Werke des Maler-Tenors „Carlo Cazals“. Der biographische, existentielle Ursprung der Zeichnungen ist deutlich, Hinweise auf seine Heimat „Hamburg – St. Pauli“ gibt er häufig. Die Traumata der Kindheit sitzen tief, der schwere Lebensweg als Künstler, sein Außenseitertum finden im künstlerischen Medium ihren Niederschlag.
Über seine Lehrer lernt Cazals das kunsthistorische Arsenal der Stile und Formen kennen. Offensichtlich sind die Vorbilder Pablo Picasso, der Zerschmetterer des schönen Aktes in den „Demoiselles d´Avignon“ und Horst Janssen, das Enfant terrible der Kunstszene Hamburgs. Auch gibt es Anleihen bei den magischen Raumkonstruktionen und Gliederpuppen eines Giorgio de Chirico und den Existenzkäfigen eines Alberto Giacometti.
Das Zeichnen beginnt auf einer bereits gebrauchten und damit belebten Oberfläche, die seinen Strich herausfordert, führt, Widerstand leistet und seiner schroffen Ästhetik entgegenkommt. Cazals sucht nach Malgründen mit Patina, auf denen das Leben bereits seine Spuren hinterlassen hat. Er nutzt Kratzer, Kleckse und Farbwischer als Inspiration, nimmt sie als Impuls zur Platzierung einer Form oder Gestalt. Hierauf entwickelt er das, was er seinen „skurrilen Irrationalismus“ nennt.
Die Hand des Künstlers reagiert wie ein Seismograph auf die Regungen der Psyche. Die Arbeiten wirken ungeplant und spontan. Es ist eine subjektive Bildwelt der Phantasie und Erinnerung. Die zeitliche und räumliche Distanz macht es möglich, in der ästhetischen Struktur des Bildes unzählige Assoziationen des seelisch Erlebten zu verschmelzen. Dabei befreit eine Art Écriture automatique den kritischen Geist aus seinen rationalen Fesseln, außerhalb ästhetischer und moralischer Bedenken fließen die Gefühle und Vorstellungen auf das Papier oder die Leinwand.
Rasch nach der ersten Zeichensetzung erscheinen seine Dämonen, der Stift oder Pinsel bringt sie hervor. Surreale Wesen entwachsen dem Material, der Linie und der Vision. Doch Cazals sucht nicht das Unbewusste, sondern das Bewusste. Seine Zeichnungen spiegeln Erlebnisinhalte oder sind Realisierungen konkreter Ängste und Aggressionen. In ihnen manifestiert sich sein Schmerz und Groll gegen die Realität ebenso wie das Bedürfnis nach Zuflucht in eine Kunstwelt.
Teils mit elegantem Schwung, teils nervös kritzelnd zeichnet er menschliche Figuren. Allerdings basieren diese häufig auf eigenwilligen Metamorphosen. Zwittergebilde wie „Wurmtier“ und „Raubfischcharakter“ verweisen auf die animalische Seite des Menschen. Cazals persönliches Bestiarium kann symbolhaft gelesen werden, wie etwa der Widderkopf, der einerseits ein archaisches Zeichen der Virilität ist, aber ebenso Alter Ego des im April geborenen Künstlers. Meistens ist die menschliche Anatomie disproportioniert, zerstückelt und ihre plastische Integrität zerstört. Diese zersprengte Syntax spiegelt die existentielle Gefährdung. Man sieht schmerzhafte Amputationen, Fragmente, Reste oder Unvollkommenes.Das Zusammenfügen dislokalisierter Körperteile erinnert an die „Cadavres exquis“ der Surrealisten. Doch es fehlt deren spielerische Poesie; zu drastisch erscheint die Kombinatorik der versehrten Körperteile. Cazals figürliche Collagen entwickeln sich zumeist aus der Linie: das assoziative und additive Verfahren produziert nicht selten ein grobmaschiges Nervengespinst, verspannt, verknotet, ein unentwirrbares Garnknäul aus Menschenteilen, unlösbar und unentrinnbar verbunden.
Es ist nicht auszumachen, ob es eine interne Beziehung zwischen den Dingen gibt oder ob es sich um eine beziehungslose Zwangsvereinigung handelt. Köpfe, ein Bein, ein abgetrennter Fuß, eine weibliche Brust, Cazals Körperteile türmen sich – verstrickt oder verkeilt, morbid und fleischlich – zu grotesken Menschenhaufen, geprägt von Erotik und Gewalt: eine eigenwillige Variation des Kalvarienberges. Sein Panoptikum schwankt zwischen sarkastischer Karikatur und dem Drama einer dysfunktionalen Menschheit. Viele dieser „objets désagréables“ erfahren in der weiteren künstlerischen Gestaltung eine Verwandlung: aus automatistischen Liniennotaten werden skulpturale Komplexe. Cazals fügt Modellierung mit Licht und Schatten hinzu, konstruiert einen perspektivischen Um-, Atelier- oder Bühnenraum, platziert seine Köpfe und Anhäufungen auf Sockel, Tische und Gestänge. Erschafft Kunstwerke im Kunstwerk.
In der „Studie St. Pauli – Milieu“ sehen wir eine konvulsivische Schönheit aus schwingenden Linien und konvexen Formen. Sein Lieblingsmotiv, die Frau, wird umkreist von einem Schwarm an Nebenmotiven. Im ungehemmten und unzensierten Bewusstseinsstrom zeigt sich seine „Faszination Femina“, hier herrscht das surrealistische Lustprinzip. Doch das erotische Thema wird sublimiert, das opulente Weib scheint nicht aus Fleisch und Blut, halb Skriptum halb Skulptur landet es ohne Unterleib als Artefakt auf einem Sockel.
Fetisch oder Unheil abwehrendes Apotropaion?
Der Prozess des Zeichnens führt bei Cazals zu einer Konkretisierung seiner inneren Welt. In den Skulpturen erhält Gedankliches eine anschauliche Präsenz, seine Dämonen werden greifbar und zugleich gebannt. Die Objektivierung im Bild ist eine Form der Bewältigung und Befreiung. Cazals Welt ist von Leid und Leidenschaften geprägt, es ist eine Welt, in der Menschen entstehen, leiden, lieben, eine tragische Kunst, der nichts Menschliches fremd ist und in der zugleich eine übermächtige Weltangst spürbar wird. Die Zeichnung und in ihr die plastische Konzeption von Welterfahrung wird durch ihre Präsentation zur diskursiven Sprache. Zwar ist der Ursprung der Zeichen ein zutiefst subjektiver, doch die Bilder sind als Botschaft zu verstehen. In Cazals Augen sind seine Werke Manifestation einer Krise, die nicht nur die seine ist. Er selbst sieht sich als Observateur wie als Provokateur. Seine Gesellschaftskritik wird durch Annotationen und Bildtitel unterstrichen. Sie reichen von der schlichten Empirie wie „Charakterologie St. Pauli“ bis zum Defätismus: „Erwachter Unrat“ und „Höllensöhne“. Cazals, „Der machtlose Individualist“, warnt vor „Spießern“ und „Philistern“. Der deutsche Soziologe Georg Simmel schreibt: „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbstständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren.“
Doch gibt es im Werk von Cazals Hoffnungsschimmer? Ja, wir sehen „Engelsvisionen“, „Ein Versuch: der neue Mensch“ und „Die Neuentwicklung Mensch“. Nur der „Ausgang“ bleibt winzig.“
